Über Gemüse(an)bau und Migration: Agritecture

Blumenkohl statt Graupappe: Studierende der Berliner Hochschule für Technik BHT befassten sich mit einem besonderen Modellbaumaterial und einem Stück spannender Berliner Einwanderungsgeschichte. Die Ausstellung dazu eröffnet am 30. November.

Was haben Spargel, Blumenkohl, Artischocken und Seide mit Berlin-Pankow zu tun? Der Name des Ortsteiles Französisch Buchholz gibt Hinweise darauf. Im Jahre 1688 entstand der Ort als Kolonie der in Frankreich wegen ihres protestantischen Glaubens bedrohten Hugenotten. Der brandenburgische Kurfürst Friedrich-Wilhelm bot den Verfolgten eine neue Heimat an und die Einladung trug im wahrsten Sinne des Wortes Früchte: Die Neuankömmlinge kamen nicht mit leeren Händen, sondern brachten auch ihre Kenntnisse im Garten- und Ackerbau mit. So wuchsen bald auf den Feldern Brandenburgs bis dato unbekannte Gemüsesorten wie Auberginen und Spargel. Vor allem vor den Kirchhöfen schossen nun Maulbeerbäume in der Hoffnung auf eine eigene Seidenproduktion hoch.

Dieser Kulturtransfer stand im Mittelpunkt der interdisziplinären Seminare „Agritecture“, die im Wintersemester 2022/23 an der Berliner Hochschule für Technik, unter der Betreuung von Prof. Dr. Susanne Junker in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin und auf Anregung des Bürgervereins Französisch Buchholz stattfanden. Die Wortneuschöpfung bezieht sich auf das Zusammenwirken von Architektur, Agrarökonomie und Gartenbauwissenschaft.

Schmackhafte Modelle

Übergeordnetes Ziel des Seminars war es, die reichhaltige Geschichte der Hugenotten in Berlin durch Kleinarchitekturen, den sogenannten Follys, sichtbar zu machen. 47 Architekturstudierende aus Bachelor- und Masterkursen begaben sich auf eine Zeitreise in den Barock und näherten sich in „fotografischen Etüden“ der Thematik. Dabei führten sie die Kompositions- und Fügungsübungen mit größtenteils essbarem Modellbaumaterial aus. Zum Einsatz kamen die typisch hugenottischen Gemüsesorten und Seide. Diese haben die Studierenden in Anlehnung an barocke Bildtechniken wie dem Stillleben drapiert und fotografiert. Als Anregung dienten Gemälde der alten Meister, der dramatische Hell-Dunkel-Kontrast erinnert beispielsweise an Malereien von Caravaggio. Die Bildnisse dienten im 17. Jahrhundert als Memento Mori, einer Bewusstwerdung der eigenen Vergänglichkeit und der daraus resultierenden Wertschätzung für die Natur und das Leben. Angesichts der aktuellen Krisen ist dies ein Gedanke, dem eine Aktualität nicht abzusprechen ist.

Kuriose Pavillons

Ein Folly ist ein dem Pavillon ähnlicher Bau, der im 16. Jahrhundert in herrschaftlichen Gärten auftauchte und durch seine kuriose Gestaltung  Aufmerksamkeit und Neugierde zu erweckte. Der Französisch Buchholzer Folly sollte 7 × 7 × 7 Meter groß sein und an Standorten eingesetzt werden – auf das Areal um die Dorfkirche und den relativ unbelebten Hugenottenplatz in einem Neubaugebiet –, um dort auf die Einwanderungsgeschichte aufmerksam zu machen. Zudem schlugen die Masterstudierenden vor, die zwischen den beiden Orten gelegenen Tramstationen als Parcours gestalterisch einzubinden.

Vom Gemüse zum Gebäude

Die Interventionen bauten auf den Erkenntnissen der Vorübung, wie etwa der Oberflächenwirkung des Gemüses und dem Input des Botanikers Prof. Dr. Marcel Robischon von der Humboldt-Universität auf. Viele der Entwürfe integrieren Garten- und Multimediaelemente wie Bildschirme. Ein Projekt griff sogar die dunklen Seiten der Geschichte in Form einer Ballade auf, die in den entworfenen Raum integriert wurde. Denn die untersuchte Zeit war auch geprägt von Verfolgung, Massakern und Gräueltaten. Zudem tauchte das Gemüse in den Designs auf, sei es in Form von Auberginen, die von der Decke hängen oder eines gesamten Pavillons, der Assoziationen an Blumenkohl weckt.

Ausstellung

Vom 30. November 2023 bis zum 31. März 2024 sind im Rathaus von Berlin-Pankow die Arbeiten der Studierenden in der Ausstellung Seide, Spargel, Artischocken. Die Hugenotten: Französisch Buchholz als historischer Gemüsegarten Berlins zu sehen. Der Eintritt ist frei!