„Gonflables“ als Reaktion auf „Hyper Comfort“: Eine Sommerschule in der Neuen Nationalgalerie

Unter dem Titel „Hyper Comfort“ fand vom 05. bis 10. September 2022 die Sommerschule der Universität der Künste Berlin (UdK) in der Glashalle der Neuen Nationalgalerie statt. Die UdK-Gastprofessorinnen Stéphanie Bru und Eveline Jürgens in Zusammenarbeit mit dem deutsch-französischen Architekten Hans-Walter Müller forderten 30 Studierende auf, sich intensiv und kritisch mit der komplexen Aufgabenstellung auseinanderzusetzen. 

Die UdK-Gastprofessorinnen Stéphanie Bru und Eveline Jürgens haben sich zusammen mit Hans-Walter Müller dem Thema Hyperkomfort angenommen. Das Format: Eine einwöchige Summer School, die eine internationale und interdisziplinäre Studierendengruppe in der Glashalle der Neuen Nationalgalerie versammelte. Hans-Walter Müller ist weltweit für seine aufblasbaren Strukturen aus Kunststoff-Folien, die „Gonflables“, bekannt. Gleich drei davon transformierten den Raum der Nationalgalerie für einen Nachmittag – am 10. September 2022 konnte die Öffentlichkeit die spektakulären, von Luft getragenen Strukturen besichtigen und begehen. Wir haben uns ausführlich mit den drei Lehrenden  unterhalten. Sie erzählten über die Hintergründe, die Methode und den Mehrwert der Summer School, über die „superlative“ Kritik an Hyperkomfort und über das Privileg als auch die Verantwortung, in Mies van der Rohes Ikone arbeiten zu dürfen.  

 

Das Thema der Sommerschule ist „Hyper Comfort“. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Stéphanie Bru: Wir befinden uns in der Dimension des „Hyperkomforts“. Auf der Suche danach haben wir auf dem Weg vieles verloren: Uns sind der Anschluss und die Verbindung zu anderen Personen und zu unserer Umgebung abhandengekommen, indem wir andauernd mit unseren Geräten und Bildschirmen beschäftigt sind. Wir bemühen uns so wenig wie möglich und erwarten, viele Antworten direkt zugespielt zu bekommen. Das zunehmende Bedürfnis nach „Komfort“ geht mit der wachsenden Globalisierung einher.

Ich sehe unsere Aufgabe als Planer*innen darin, ständig Antworten auf die Frage nach „Komfort“ zu formulieren. Eine der besten Antworten ist in dem Lebensstil von Hans-Walter Müller zu finden. Als ich mit seiner Architektur in Berührung kam, wurde mir klar, was Pragmatismus bedeutet. Es ist die erste Zusammenarbeit, und wir fühlen uns privilegiert, dass wir diese Sommerschule gemeinsam durchführen konnten.

Eveline Jürgens: In unserem regulärem Entwurfsstudio an der UdK beschäftigen wir uns ebenfalls mit dem Thema „Hyperkomfort“. Diese Frage begleitet unsere Studierenden dementsprechend schon länger. Durch eine Reihe von Online-Terminen wurden die Teilnehmer*innen der Sommerschule ebenfalls in die Thematik eingeführt. Als Einstieg mussten sie sich Gedanken zum Begriff „Komfortzone“ machen. Um den Austausch von Studierenden des Entwurfsstudios mit den Teilnehmenden der Sommerschule zu ermöglichen, treffen sich nun beide Gruppen während der Workshop-Woche.

Hans-Walter Müller: Ich bin immer daran interessiert gewesen, die Architektur auf eine andere Art und Weise zu betrachten und mich mit neuen Mitteln wie zum Beispiel Luft, Licht oder Elektrizität auseinanderzusetzen. Darauf habe ich meine gesamte Arbeit aufgebaut und fand so den Weg zu den aufblasbaren Volumina. In so einer Struktur lebe ich auch seit 50 Jahren und habe mein eigenes Verständnis von Komfort definiert.

Wie haben Sie den Workshop inhaltlich und methodologisch konzipiert?

Stéphanie Bru: Die Summer-School hat nur fünf Tage gedauert. Davor gab es aber eine lange Vorbereitungsphase. Wir kooperierten mit Hans-Walter, der im August intensiv an den Entwürfen der zu erstellenden Volumina gearbeitet hat. 

Hans-Walter Müller: Die Arbeit mit jungen Leuten, mit Studierenden ist stets sehr bereichernd und bringt eine große Verantwortung mit sich. Im engen Austausch haben wir es innerhalb weniger Tage geschafft, die Architektur in ein menschliches Environment zu bringen. Dafür musste ich mich im Vorfeld intensiv vorbereiten und kam zu einem Konzept, das wenig Freiraum zulässt, jedoch gerade dadurch sehr effektiv ist. Ich arbeite mit der Mechanik von Flüssigkeiten und Gasen, die nichts mehr mit der Schwerkraft zu tun hat. Diese neuartige Konstruktionsweise hat man noch nicht gänzlich verstanden. Eines Tages werden wir aber die Schwerkraft verlieren, und dadurch wird der Raum eine andere Poesie erhalten. Man könnte behaupten, der Raum ist nicht ewig, er existiert nur für einen Augenblick. Die Studierenden sollten entsprechend lernen, jeden Augenblick mit der tiefsten Intensität zu erleben. „Hyperkomfort“ hindert uns daran, intensiver zu leben. 

Eine Konstruktion in ihrer natürlichen Größe zu errichten und zu erleben, ist essenziell. Das Wesentliche in der Architektur macht die Produktion von Raum aus – das möchte ich den Studierenden in erster Linie vermitteln. In diesem Workshop benutzen wir relativ billiges Material, um Räume zu schaffen. Die Frage nach der Materialität ist daher für diesen Workshop zweitrangig. Wichtig ist der Raum, der sich zwischen den Wänden spannt - dieser lässt sich nur spüren, nicht erklären.

 

Welche Auswirkung hatten die Räume der Neuen Nationalgalerie auf die Arbeit und die entstandenen Arbeiten?

Stéphanie Bru: Die Neue Nationalgalerie bietet den perfekten Raum, bei dem es sich nicht nur um ein ikonisches Gebäude handelt. Ausschlaggebend für uns ist der Bezug zwischen dem Innen- und dem Außenraum. In unserem alltäglichen Architekturschaffen bemühen wir uns, diese unmittelbare Beziehung zur Natur, zur Stadt und zu unserer nahen Umgebung aufrecht zu erhalten. 

Hans-Walter Müller: Seit 1967 wende ich einen Maßstab an, der auf ein Modul von 1,20 x 1,20 Meter beruht. Meine Strukturen und das Gebäude der neuen Nationalgalerie bauen gleichsam auf dieses Modul auf. Das bedeutet, dass ich meine Volumina in das Raster Mies van der Rohes, dem großartigen Architekten, perfekt einfügen kann.

Sie haben mit 30 Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Disziplinen gearbeitet. Wie haben Sie die Begegnung mit den Studierenden erlebt?

Eveline Jürgens: An der UdK hat das interdisziplinäre Arbeiten einen hohen Stellenwert. Unter den Teilnehmenden sind neben Student*innen der Architektur auch Studierende und Absolvent*innen anderer Disziplinen wie zum Beispiel aus dem Bereich Tanz, Theater und verschiedenen künstlerischen Studiengängen. Deren persönliche Perspektiven sind sehr bereichernd. 

Stéphanie Bru: Eine wichtige Komponente der Sommerschule war das Zusammenkommen von jungen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen mit ihren diversen Erfahrungen. Nach zwei Jahren Pandemie haben sich einige Verhaltensweisen modifiziert. Unter anderem war in der Arbeit vor Ort das Miteinander sehr wichtig: Die Abende zusammen zu verbringen oder gemeinsam eine Pizza zu essen. Wir haben sehr intensiv gearbeitet, haben aber gleichzeitig die Gelegenheit genutzt, um zu denken und zu reflektieren.

Strukturen im Maßstab eins zu eins innerhalb von fünf Tagen zu realisieren, war eine große Herausforderung. Es hat uns allen aufgezeigt, dass alles machbar ist. „All is possible“! war eine wichtige Erkenntnis für die Gruppe.

Hans-Walter Müller: In der Begegnung mit Studierenden ist der Altersunterschied natürlich sehr interessant. Es ist das zweite Mal, dass ich in Berlin eine Sommerschule durchführe. Ich habe bisher 41 Workshops abgehalten und das jedes Mal zu einem anderen Thema. Die Arbeit ist immer äußerst intensiv, die Reaktion der Gruppe unberechenbar. Ich habe bereits eine Lebenserfahrung, auf die ich mich berufen kann und die ich gemeinsam mit den Studierenden ausbauen möchte. Durch die Tatsache, dass wir den gesamten Tag miteinander verbringen, erleben wir vieles gemeinsam, und ich kann erfahren, weshalb die Studierenden sich eigentlich für Architektur interessieren – das ist nicht immer selbsterklärend.

 

Was passiert mit den Strukturen nach dem Abschluss der Sommerschule? Wie führen Sie das Thema des Hyperkomforts weiter?

Eveline Jürgens: „Hyperkomfort“ ist ein breites Thema, das wir gerne weiterverfolgen möchten. Es bieten sich weitere Fragen im Rahmen dieses großen Themenspektrums an. Für die aufblasbaren Strukturen, die wir im Rahmen der Sommerschule errichtet haben, haben wir uns bemüht, auch recycelte Planen und Verpackungsreste aus dem Museumskontext wiederzuverwenden. Es war jedoch schwieriger als gedacht, daraus eine durchgehende, luftdichte Außenhaut herzustellen, so dass wir im Hinblick auf die Wiederverwendbarkeit der Strukturen überwiegend auf kostengünstige Folie aus dem Agrarkontext zurückgegriffen haben. Bei den im Workshop entstandenen Strukturen handelt es sich um vereinfachte Versionen einer eigentlich sehr anspruchsvollen Art der Konstruktion. Dennoch spricht nichts gegen eine Wiederverwendung: Wir werden die „Gonflables“ abbauen und gelegentlich für Veranstaltungen der UdK nutzen.