Entwerfen mit Mängeln? Das Studio Schadensbilder

Was kann entstehen, wenn wir Bauschäden als ästhetische, funktionale und gestalterische Ressourcen betrachten? Das Gaststudio Barina, Saat und Schaller untersuchte Risse, Verformungen und konstruktive Schwächen nicht als Fehler, sondern als Anlass für einen Entwurf.

Wenn von Bauschäden die Rede ist, denken viele an Klagen und Reparaturbedarf – selten an architektonischen Mehrwert. Doch was, wenn gerade das Dysfunktionale, das Verfallene neue gestalterische Perspektiven eröffnet? 

Im Wintersemester 2024/25 widmete sich das Gaststudio Barina, Saat und Schaller an der HTWK Leipzig dem Potenzial von Gebäudeschäden. Gemeinsam mit Bachelorstudierenden des 5. Semesters begaben sie sich auf eine Entwurfsreise, die sich radikal von der gängigen Praxis absetzt. Untersucht wurden Bestandsbauten in Leipzig – formal oft intakt, aber voller struktureller Schwächen. Der Bauschaden wurde in drei Eskalationsstufen eingeordnet: Bagatell-, Kapital- und Totalschaden. Jedes Stadium eröffnete neue Spielräume für Entwurfsstrategien, die weder den Erhalt eines vermeintlichen Idealzustands noch reine Wertsteigerung anstrebten. 

Bagatell- und Kapitalschaden

Zu Beginn ging es um den Bagatellschaden – kleine Risse, abgeplatzte Kanten, lose Platten. Anstatt diese zu verdecken, rückten sie ins Zentrum der Entwürfe. Gearbeitet wurde an Arbeitsmodellen im Maßstab 1:2 bis 1:5, möglichst nah am realen Detail, oft mit recycelten Materialien, beklebt mit Texturen oder echten Oberflächen. Beispielhaft ist das Projekt von Lea-Marie Schürer und Tom Tuan Anh Simmank an der St. Trinitatis-Kirche. Dort erzeugen die Vibrationen der Glocken Spannungen in der Tragstruktur, die sich als Risse in der Fassade zeigen. Das Modell griff diesen latenten Schaden gestalterisch auf. 

In der zweiten Phase, dem Kapitalschaden, geriet die Tragstruktur selbst ins Wanken. Die Studierenden dachten Nutzungen und Gebäudestrukturen neu. Die Modelle wurden kleiner (1:10 bis 1:33), der Entwurfsprozess komplexer.

Totalschaden als Entwurfsfreiheit

Im finalen Stadium, dem Totalschaden, verlor der ursprüngliche Baukörper fast seine Bedeutung. Jetzt hatten die Interventionen mindestens gleiches Gewicht wie der Bestand. Modelle verwoben Schaden, Substanz und neue Nutzung zu einem hybriden Ganzen. Welche die Studierenden fotografisch in ihren sogenannten Schadensbildern inszenierten. 

Richard Rauch reagierte etwa auf die Korrosion des Glasdachs der Landeszentralbank. Wo Regenwasser durch die beschädigte Konstruktion ins Marmor-Atrium dringt, schlug Rauch keinen Austausch vor, sondern inszenierte einen Wasserfall. Statt einer neuen Dichtung erhielten die Bankangestellten eine neue Aussicht. 

Anton Oehlert wiederum öffnete in seinem Projekt an den Plattenbauten der Kolonnadenstraße die beschädigten Fassadenplatten weiter – gehalten von einer filigranen Zugkonstruktion. Der wild wuchernde Blauregen, mittlerweile unter Denkmalschutz, darf in die Architektur hineinwachsen. Die Fassade wurde zur Bühne für das Zusammenspiel von Beton, Natur und Verfall.

Ein weiteres Beispiel lieferte das Projekt von Laura Heymann und Luy Stromeier, das sich mit einem systemischen Schaden im Botanischen Garten Leipzig beschäftigte. Dort überhitzt die Sonneneinstrahlung die tragenden Stahlträger des Gewächshauses und führt regelmäßig zum Springen der Glasscheiben. Anstatt diesen Mangel zu beheben, übersetzt das Modell die Verletzlichkeit des Materials in eine fragile, fast immaterielle Rauminstallation.

Schadenfreude als Entwurfsstrategie?

Das Studio stellte grundlegende Vorstellungen von Funktionalität, Wert und Mangel infrage. Warum nicht Bauschäden feiern – als Mittel zur architektonischen Erweiterung? Zwischen makellos und defekt öffnete sich im Studio ein dritter Raum: Architektur in Grauzonen, Rissen und Brüchen.