Reise durch den Alltag: Studierende dokumentieren ihre Erfahrungen während der Pandemie

Den Großteil des Tages in den eigenen vier Wänden, lernen und lehren zwischen analoger und digitaler Welt: So gestaltet sich der Tag vieler Studierenden im Jahr 2020. Prof. Petra Petersson, Dr. Armin Stocker und Ena Kukić haben in „Reise durch den Alltag“ mit Studierenden die dadurch entstandenen ganz persönlichen Erfahrungen des Studienalltags reflektiert und in Form von Skizzen, Notizen und Fotografien räumlicher Strukturen in einer Mappe dokumentiert und zusammengefasst. Ein Gastbeitrag.

Das erste Studienjahr der Architektur an der Technischen Universität Graz (TU Graz) konzentriert sich auf die wesentlichen Punkte und verfolgt das Ziel, ein grundsätzliches Verständnis für Architektur, den dreidimensionalen Raum und die Zusammenhänge in der gebauten Umwelt zu ermöglichen. Am Institut für Grundlagen der Konstruktion und des Entwerfens (KOEN) erklären wir das Schwierige in verständlichen Begriffen und versuchen, den Studierenden Schritt für Schritt die Mittel an die Hand zu geben, die komplexen Zusammenhänge für sich selbst zu erkunden. Wir stellen vor allem die grundlegenden Fragen „Warum?“ und „Wie?“. Das Hauptziel ist es, das Sehen, das Zeichnen, das Konstruieren und das Gestalten zu lernen. Darüber hinaus werden den Studierenden Werkzeuge vermittelt, um ihre eigenen Ideen weiterentwickeln und diese auch vermitteln zu können. Hierzu zählen das Skizzieren, das technische Zeichnen (von Hand und mit dem Computer), Layout und Modellbau ebenso wie mündliche und schriftliche Präsentationen.

Skizzenbücher werden von Anfang an als integraler Bestandteil des Studiums eingesetzt, und ihre Verwendung wird besonders gefördert. Darin spiegelt sich eines unserer wichtigsten Anliegen: das Verständnis der Herstellung von Architektur als Prozess. Das Zeichnen und Skizzieren verbessert nicht nur die Wahrnehmung, ermutigt eine genauere Überprüfung der gebauten Umwelt und lenkt die Aufmerksamkeit auf Details, sondern regt auch zu einer gedanklichen
Auseinandersetzung mit dem betrachteten Objekt an. Das Ziel, den Studierenden eine neue Sicht auf die komplexe Welt der Architektur zu eröffnen, zu lernen, hinter die Dinge zu sehen, sie einzuordnen und zu bewerten, findet im zweiten Semester üblicherweise in Form einer Reise, angelehnt an die Grand Tour, mit dem pädagogischen Ziel statt, soziokulturelle sowie zeichnerische Studien und Analysen in Form von Skizzen und Notizen zu erarbeiten, Fotografien von bedeutenden architektonischen Einzelleistungen und Stadtstrukturen anzufertigen sowie Organisationsformen von anderen Kulturen, Landschaften, urbanen Orten und sozialem Kontext zu erfahren und einzuordnen. Studierende werden in ihrer Urteilskraft und Wahrnehmungssensibilität für die gebaute Welt geschult, um das Gebaute im jeweiligen Kontext, in Bezug zur Architektur und deren Geschichte, zu Landschaft- und zum Stadtraum, zu spezifischen Lebensformen sowie zur historischen Entwicklung zu sehen und einordnen zu können.

Die Reaktion auf die pandemische Situation und die damit einhergehende Änderung des Lehrformats im Jahr 2020 erweiterte dieses Spektrum des Lernens und der Raumerfahrung. Dies mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, haben sich die Studierenden sowie die Lehrenden dieser Reise durch den Alltag vorwiegend in ihren eigenen Wohnungen und Nachbarschaften aufgehalten, hatten keinen physischen Kontakt zueinander und der Austausch fand über digitale Plattformen statt.

Das Hauptziel, zu lernen, das zu sehen, was da ist, wurde nun auf andere Weise in Angriff genommen. Statt die üblichen Szenewechsel als Inspirationsquelle zu verwenden, nutzten die Studierenden ihren jeweiligen eigenen Lebenskontext, in dem sie sich zu dieser Zeit befunden haben. Einige der Aufgaben, die in den vorherigen Studienreisen gestellt worden waren, wurden angepasst, und einige neue Aufgaben wurden speziell für diese Reise durch den Alltag entwickelt.

Den ganzen Tag über wechselten sich Skizzier- und Zeichenaufgaben mit Online-Gruppentreffen ab, bei denen die Studierenden einander ihre Resultate präsentierten. Obwohl also niemand tatsächlich physisch reiste, konnten alle mit den Augen ihrer Kommiliton*innen verschiedene Kontexte erleben. Sowohl für Lehrende als auch für Studierende bedeutete dies, Anwendungen zu erlernen und gleichzeitig gegenüber einer Reihe unerwarteter Situationen im Lehr- und Lernprozess flexibel zu bleiben und sich an diese anzupassen. Die Aufgabenstellungen ließen genug Spielraum, um alle Studierenden gleichermaßen einzubinden, unabhängig davon, wo sie den Lockdown verbrachten, mit dem Ziel, Abwechslung und Spaß in das unbequeme Alltagsleben des Lockdowns zu bringen, mit dem alle konfrontiert waren. Die Aufgaben waren so gestaltet, dass sie die Lernziele der Live-Exkursion verfolgten. Diese unkonventionelle Exkursion führte zur Erhebung wertvoller Daten über eine experimentelle Lehrveranstaltung, die in einem sehr spezifischen Kontext stattfand, was uns bei der Beantwortung der Frage hilft, wie Architekturunterricht in einer postpandemischen Welt aussehen könnte.

Das Konzept des Online-Unterrichts ebenso wie viele Analysen seiner Anwendbarkeit gibt es schon lange. Doch im bislang zusammengetragenen Material wurden viele der für die Pandemiezeit spezifischen Themen noch nicht berücksichtigt. Erst die noch nie dagewesene Situation eines Lockdowns erzwang den umfassenden, aber weitgehend ungeplanten Einsatz dieses Konzepts. Daher bieten aktuelle Erfahrungen zwar möglicherweise keine qualitative wissenschaftliche Grundlage für eine Untersuchung der Umsetzung des Online-Unterrichts unter normalen Umständen, sind aber sicherlich geeignet, um die Anwendbarkeit und Unterrichtsstruktur in unvorhergesehenen Situationen zu erforschen.

Für das KOEN-Institut wie für viele andere Bildungseinrichtungen bot der Architekturunterricht während der COVID-19-Pandemie eine Gelegenheit, den Lehrprozess kreativ zu erkunden und neue Dinge auszuprobieren. Vieles lässt sich aus dieser einzigartigen Erfahrung lernen. So erlaubt der Fernunterricht etwa einerseits größere geografische Flexibilität und Unabhängigkeit, veranschaulicht andererseits aber auch das Problem der Ungleichheit hinsichtlich der Möglichkeiten des Einsatzes von Technologie. Es bleibt fraglich, ob sich das Niveau des persönlichen Kontakts, das für eine ganzheitliche Erfahrung des Architekturunterrichts wesentlich ist, jemals in der Online-Lehre erreichen lässt. Die Exkursion Reise durch den Alltag war ein mit großem Eifer und Optimismus durchgeführtes Experiment und ein Versuch, etwas zur Beantwortung dieser Frage beizutragen. Es hat sich zwar herausgestellt, dass ein eindrucksvolles Gruppenerlebnis auch digital erreicht werden kann, es ist aber auch nach der Reise durch den Alltag offensichtlich, dass die kooperative „Insitu-Atmosphäre“ einer Exkursion vor Ort dennoch unersetzlich ist.