Nach der Kernkraft: Zukunftsstrategien für das unbequeme Erbe des Atomzeitalters

Entwerferisch und forschend setzte sich das Team von Prof. Stefan Rettich vom Institut für Städtebau der Universität Kassel mit der Frage nach der Nachnutzung stillgelegter Kernkraftwerke auseinander. Eine ausführliche Dokumentation der studentischen Auseinandersetzung mit dem baulichen Erbe einer turbulenten Geschichte.

Eine Entscheidung, ein Datum, ein Knopfdruck: Am 15. April 2023 werden die letzten drei laufenden Atomkraftwerke Deutschlands stillgelegt. Was passiert mit den gewaltigen Anlagen, deren umstrittene Technologie seit zwei Generationen die Gesellschaft spaltet? Ist ein Nachleben der Kernkraftwerke vorstellbar? An diesen Fragen knüpft das umfangreiche Entwurfs- und Forschungsprojekt geleitet von Prof. Stefan Rettich vom Institut für Städtebau der Universität Kassel an. Ergebnis der dreijährigen Auseinandersetzung mit dem Thema sind die Publikation „Nach der Kernkraft – Konversionen des Atomzeitalters“ (JOVIS Verlag, 2022) und die gleichnamige Wanderausstellung, die bis zum 15.04.2023 in Berlin besucht werden kann.

Ein technologisches Versprechen – eine gesellschaftliche Provokation – ein politisches Dilemma

Seit dessen Einführung hat das Geschäft der Atomenergie im Spannungsfeld Politik-Wirtschaft-Gesellschaft nicht aufgehört, zu polarisieren. Die Entscheidung der deutschen Regierung für den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie bringt einerseits Erleichterung, wirft andererseits zahlreiche Fragen bezüglich der hinterlassenen Spuren auf: dem radioaktiven Abfall und der gebauten Infrastruktur. Atommüll muss korrekt entsorgt werden und für eine Million Jahre eingelagert bleiben. Die Anlagen hingegen – riesige Bauwerke mit erkennbarer Typologie und Morphologie – bleiben erstmals dominant sichtbar. Zeitzeugen einer bitteren Debatte ohne Zukunftsperspektive, denn geplant ist der Rückbau auf die grüne Wiese. Können wir es uns in Zeiten der Bau- und Energiewende leisten, den relativ jungen Baubestand – die Mehrheit der Kernkraftwerke wurden in den 1970er Jahren errichtet – teuer abzureißen? Das Versprechen einer sauberen Energieproduktion läuft Gefahr, zu einer Energiebelastung zu werden.

Aus Energieerzeuger wird Baumüll?

Ein Atomkraftwerk übersetzt sich in rund 150.000 Tonnen Betonmasse. Davon repräsentiert der kontaminierte Teil nur 2,8 %. Die restlichen 97,2 % Beton und Anlageteile wären wiederverwertbar. Gibt es vielleicht eine Alternative zum aufwendigen Rückbau? Was können die Anlagen aus heutiger Sicht überhaupt leisten? Auf diesen Fragen baut die von Prof. Stefan Rettich initiierte Untersuchung auf. Das dreijährige Projekt startete am Institut für Städtebau in Form von Rechercheseminaren, in denen Studierende den Status Quo, die Geschichte und die Besonderheiten der untersuchten Standorte ermittelten. Im nächsten Schritt entwickelten die Student*innen in Teams architektonische Konzepte – maßgeschneiderte Zukunftsvisionen für die Nachnutzung der sonst obsolet werdenden Kernkraftwerke. 

Szenarien für ein Zeitalter nach der Kernkraft

Fünf Standorte haben die Studierenden unter die Lupe genommen: Brokdorf, Brunsbüttel und Krümmel (alle drei unweit von Hamburg entfernt, entlang der Elbe angesiedelt) sowie Biblis in Hessen und Gundremmingen in Bayern. Lage, Anbindung, Zustand, geschichtliche und gesellschaftliche Relevanz: all diese Aspekte stellten die Grundlagen für eine differenzierte Szenarien-Bildung. Von Transformator für die Speicherung regenerativer Energien oder Wasserstoffhersteller und -lager über Museum oder Campus für Friedensforschung bis hin zu Habitat bedrohter Tier- und Pflanzenarten oder Werkraum für Kunst und Handwerk – Die Bandbreite der Szenarien für die Weiternutzung der analysierten Kernkraftwerke liefert wichtige Denkimpulse, unter anderem dem Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung

Die Energiefrage findet architektonische Antworten

Die Kernkraftwerke an den Standorten Brunsbüttel und Brokdorf werden zu Hoffnungsträgern der Energiewende, da sie bereits an das Energienetz angebunden sind und es zukünftig mit der richtigen Strategie weiter ausbauen könnten. An beiden Standorten schlagen die Student*innen-Teams eine intelligente Konversion der Atomanlagen in Speicher – für Strom beziehungsweise Wasserstoff. 

Das Projekt „Mega-Watt-Park“, entworfen von Gerhard Flasche, Pascal Simon und Nils Stoya, geht auf das Kernkraftwerk in Brunsbüttel ein und stellt die Frage: „Was wäre, wenn ein abgeschaltetes Kernkraftwerk zum energetischen Impulsgeber würde?“ Der abgeschaltete Reaktor der bestehenden Anlage könnte zur Speicherung überschüssiger Strommengen dienen, sodass der sogenannte Geisterstrom verwertet und Synergieeffekte mit dem angrenzenden Industriegebiet „ChemCoast Park“ geschaffen werden. 

„Um Brunsbüttel kommt man nicht herum – insbesondere, wenn es um Antworten für die grüne Energiewende [...] geht.“ Gerhard Flasche, Pascal Simon, Nils Stoya (Universität Kassel)

„Was wäre, wenn Kernkraftwerke die grüne Energiewende retten würden?“ Cara Frey, Jasper Harhahn und Pia Thois thematisieren im Projekt „HYDRO|EN|ERGY“ das Potenzial des Atomkraftwerks in Brokdorf, sich zum intelligenten Wasserstoffspeicher weiterzuentwickeln. Der gespeicherte Wasserstoff lässt sich klimaneutral erneut verstromen und könnte durch die angrenzende Konverter-Anlage transformiert und verteilt.

„Die Energieproduktion in einzelnen Großanlagen ist Vergangenheit. In Zukunft ist das System Produzent und Konsument in einem – und Brokdorf bleibt ein bedeutender Knoten im Netz deutscher Energieproduktion.“ Cara Frey, Jasper Herhahn, Pia Thois (Universität Kassel)