Struktur mit Weitblick: Die vertikale Baumschule in der Kulturhauptstadt 2023

Eine mehrstöckige, begehbare Struktur als Ausstellungsraum für 1306 Pflanzen eröffnet Besucher*innen die Möglichkeit, ihre Beziehung zum Stadtraum neu zu verhandeln. Eine immersive Lernerfahrung in der Höhe.

Als Europäische Kulturhauptstadt 2023 bietet die im Westen Rumäniens gelegene Stadt Timișoara das ganze Jahr über ein abwechslungsreiches Veranstaltungsprogramm. Ein ungewöhnliches Setting dafür ist die am Victoriei-Platz errichtete temporäre Struktur. Der bepflanzte Gerüstturm ist die bauliche Umsetzung des Projektes „Look at the city: The Nursery - 1306 plants for Timișoara“, das am Programm der europäischen Architekturplattform LINA teilnimmt. Das Ziel des Organisationsteams vom OAR Timiș (Bund Rumänischer Architekt*innen, Filiale Timiș) war es, den Besucher*innen eine neue Interaktion mit dem Stadtraum zu ermöglichen. 

Ein neuer Blick auf den Stadtraum

Über das unausgeschöpfte Potenzial des zentralen Victoriei-Platzes haben sich die Organisator*innen schon lange Gedanken gemacht. Dass die Passant*innen nicht öfter an dem Ort verweilen und dass dieser nur horizontal, auf Erdgeschossebene erlebt wird, warf die Frage nach einem Perspektivenwechsel auf. Welche neue physische oder symbolische Beziehung können die Stadtbewohner*innen zu diesem historisch geladenen Ort aufbauen? Wie ließe sich die Identität des Platzes schärfen und der urbane Raum aufwerten? Das Projekt „Look at the city: The Nursery - 1306 plants for Timișoara“ baut auf diese Fragen auf und regt neue Debatten über die Nutzung der öffentlichen Räume der Stadt an. Daraus möchte das Organisationsteam Erkenntnisse für die geplante Neugestaltung des Victoriei-Platzes gewinnen.

Das Konzept für den Pflanzenturm lieferte das katalanische Architekturbüro MAIO Architects. Die Planung führte ein multidisziplinäres Team von lokalen Architekt*innen, Landschaftsarchitekt*innen und Statiker*innen mit Beteiligung der Fakultät für Agrarwissenschaften durch. Die Struktur wird das ganze Jahr über mit Veranstaltungen, Mikroausstellungen, Workshops und Führungen bespielt – zahlreiche Aktivitäten mit Lerncharakter, denen der Turm eine hochgestreckte Bühne bietet. 

Kurzlebiges Erlebnis oder Intervention mit Langzeitwirkung?

Eine gerüstartige, begehbare Struktur, die den öffentlichen Raum in die Höhe zieht und für einen gewissen Zeitraum neue Perspektiven auf die Stadt eröffnet – das ist kein Novum mehr: Temporäre Bauten wie „Stairs to Kriterion“ von MVRDV in Rotterdam, das vertikale Gerüst „add on. 20 höhenmeter“ von der TU Wien oder – viel größer – der „Humanidade 2012“ Pavillon in Rio de Janeiro von Carla Juaçaba und Bia Lessa hatten bereits ihren Moment. Aber handelt es sich hierbei um fotogene Installationen ohne dauerhafte Wirkung oder um Impulsgeber für nachhaltige Entwicklungen? 

„The Nursery“ ist in vielerlei Hinsicht ein Projekt mit Lerncharakter. Der vertikale Rundgang klärt die Besucher*innen als lehrreicher Spaziergang über das architektonische und botanische Erbe der Stadt auf. Darüber hinaus eröffnet das Projekt die Diskussion über globale Themen wie Klimawandel, Desertifikation, Ressourcenknappheit und Koexistenz verschiedener Lebensformen. Um diesen Diskussionen den geeigneten Raum zu bieten, haben die Organisator*innen die Gemeinschaft der Studierenden und Lehrenden der FAUT (Fakultät für Architektur und Städtebau Timișoara) dazu aufgerufen, das Veranstaltungsprogramm der vertikalen Baumschule mitzugestalten.

1306 Pflanzen auf sechs Ebenen 

Mit der baulichen Intervention auf ein Minimum reduziert, rückt die wuchernde Pflanzenlandschaft in den Vordergrund. Beteiligt an der Konzeption der vertikalen Baumschule war die Fakultät für Agrarwissenschaften der BUASVM (Banater Universität für Bodenkultur und Veterinärmedizin). 1306 Grünpflanzen – von Baumarten, Sträuchern und Blütenpflanzen bis hin Nutz- und Zierpflanzen –, die aus örtlichen Gemeinschaftsgärten oder von der Hochschule stammen, erstrecken sich auf die sechs Ebenen des Gerüstes. Mit den 1306 ausgestellten Pflanzen zielt die Baumschule darauf ab, die lokale Pflanzenvielfalt als identitätsstiftendes Element Timișoaras zu fördern. 

Ein geschlossener Kreislauf mit minimalem Fußabdruck

Die Installation bleibt bis Ende 2023 auf dem Victoriei-Platz. Dadurch können die Passant*innen den gesamten Lebenszyklus der Pflanzen erleben und somit eine stetig wechselnde, vertikale Landschaft genießen. Alle Elemente des Pflanzenturms werden in den Kreislauf zurückgeführt: Die angemietete modulare Stahlkonstruktion wird nach ihrem Abbau für weitere Nutzung zur Verfügung stehen, und die Pflanzen werden voraussichtlich auf ausgewählten Freiflächen in der Stadt ihren festen Platz finden.

The Nursery - Aufbau der Struktur; @Ovidiu Zimcea